Erster Landgang
 

Schließlich Landgang – nach 2.600 Seemeilen: Unter dem Foto steht, was sich anhört wie eine Erlösung: „Der erste Hafen Cagliari auf Sardinien“.

Endlich gab es etwas zu sehen. Ich vermute, dass in diesem Juni 1930 mein Großvater im Alter von nicht ganz 22 Jahren zum ersten Mal ausländischen Boden betrat. Der Reiz des Neuen muss den Großvater überwältigt haben – jedenfalls wenn man mit Maßstäben der Gegenwart denkt und eine gewisse Weltoffenheit voraussetzt. Natürlich lässt sich nicht ausschließen, dass bereits der erste kurze Aufenthalt in einem anderen Land meinen Großvater in der Auffassung bestärkte, dass in der Heimat alles besser sei. Das bleibt offen. Es folgen einige Aufnahmen von Sehenswürdigkeiten, die sich jeder Tourist dort angesehen hätte. Erstaunlich bleibt bei beiden Weltreisen, dass die Seeleute immer längere Aufenthalte in den Häfen und Möglichkeiten zu ausgedehnten Landgängen hatten. Den Fotos nach zu urteilen, nahm die Besatzung des Kreuzer Karlsruhe in Cagliari keine repräsentativen Aufgaben wahr. Man sah sich einen Friedhof an, besuchte die Bastei, das Amphitheater und das Grabmal der Schutzgöttin von Sardinien. Das letzte Bild zeigt „Cagliari von Bord aus gesehen“. Von dort aus ging die Reise weiter nach Sizilien.

Beim Durchblättern der Alben finde ich immer wieder Namen von Orten, die mir nicht sofort bekannt sind, obwohl ich glaube, Namen bedeutender Hafenstädte zumindest wiederzuerkennen.

Teilweise bin ich nicht sicher, ob die Namen nur hartnäckig falsch geschrieben sind und ich sie deshalb im Atlas nicht finden kann, oder ob es sie so nicht mehr gibt, weil das Land keine deutsche Kolonie mehr ist bzw. andere politische und geografische Gegebenheiten seinen Namen geändert haben. Der erste falsch geschriebene Ort heißt „Taromina“, es lässt sich aber leicht feststellen, dass Taormina/Sizilien gemeint ist. Viel gesehen zu haben scheint sie Besatzung auf Taormina nicht. Ich vermute, dass es nur einen kurzen Landgang gab. Zum einen sehe ich das dadurch bestätigt, dass in der Reiseroutenübersicht als nächstes Ziel nach Cagliari Kreta und nicht Sardinien genannt ist, zum anderen gibt es von Sizilien hauptsächlich Aufnahmen, die vom Schiff aus gemacht wurden. Man hat die Insel Sizilien vom Kreuzer Karlsruhe aus gesehen und sie von dort aus fotografiert. Auf einem Bild befinden sich Menschen, die ihrer Kleidung nach zu urteilen wie italienische Zivilisten aussehen.

Vom Amphitheater aus kann man Europas größten aktiven Vulkan, den Ätna, sehen. In Taormina ist, wie er in seinen „Erinnerungen“ schreibt, 1930 auch Max Schmeling gewesen. Um sich als schon weltbekannter Star unbeobachtet von der Öffentlichkeit zu regenerieren, reiste der Boxer, der drei Jahre älter als mein Großvater war, nach Taormina (S. 157, Erinnerungen): „Das kleine, an einen Hang geklebte Bergnest im Südosten Siziliens war damals vom Tourismus noch kaum entdeckt. Immerhin verfügte es über eines der bekanntesten und luxuriösesten europäischen Urlaubshotels überhaupt ... Machon und ich lagen in der Sonne herum, wir schwammen im Meer und stiegen, freilich ohne meinen Fuß anzustrengen, vorsichtig in den Zypressenhängen herum. Zum ersten Mal sah ich hier ein antikes Theater, das Urbild jener Arenen, in denen, noch ganz von kultischen Antrieben bestimmt, das Showgeschäft seinen Ausgang genommen hatte. Es war die Zeit Mussolinis, doch man spürte hier nur wenig von seiner Herrschaft. Der Welteroberungsdrang der Italiener war noch friedlich-sportlicher Natur. Man sprach über Admiral Nobiles Expedition zum Pol, über die Flugrekorde Marschall Balbos und vor allem von den dramatischen Duellen Nuvolaris und Varzis auf Alfa Romeo und Bugatti gegen ihre Konkurrenz aus Frankreich oder Deutschland.“

Meines Großvaters Reise ging weiter nach Kreta, die drei Aufnahmen, die ich in seinem Album zu dem Aufenthalt finde, sind alle von Canea, wo das Schiff angelegt hatte – ins Innere der Insel kam man nicht. Canea finde ich als „Chania“ in meinem alten Atlas, der griechische Name kann wohl unterschiedlichst transkribiert werden.

Es sieht aus, als belieferten sie mit ihren kleinen Booten den Kreuzer Karlsruhe mit irgendetwas. Die einzigen Fotos vom Landgang sind die Nahaufnahme von Kakteen und die drei Bilder vom Amphitheater von Taormina, das die Besatzung besucht hat und das unmittelbar in der Nähe des Hafens zu liegen scheint.

Es gibt eine Aufnahme von einem alten Griechen in Landestracht sowie von drei Wasserpfeifenrauchern.

Außerdem nahm die Besatzung des Kreuzer Karlsruhe offenbar zum ersten Mal ihre repräsentativen Aufgaben wahr: Auf dem Foto sieht man, wie die Bordkapelle vor großem einheimischem Publikum im botanischen Garten von Canea spielt.

Die nächste Aufnahme, 514 Seemeilen weiter, zeigt die Einfahrt in den Suez-Kanal bei Port Said/Ägypten. Der Suez-Kanal, 1869 als Verbindung des Mittelmeers mit dem Golf von Suez und dem Roten Meer für die Schifffahrt freigegeben, hatte zu dem Zeitpunkt, zu welchem der Großvater ihn durchfuhr, nicht einmal ein Menschenalter erreicht.